Email-Nick

zurück

In den Sommerferien / Katrin gefesselt im Wald

Es war der erste Tag der Sommerferien. Katrin war gerade fünfzehn geworden. Sie hatte dunkelblonde Haare und ein Problem, ein großes Problem! Verursacht wurde das Problem von einem winzigen vernickelten Metallschlüsselchen, welches einen Meter von Katrins nackten Füßen entfernt auf dem Boden lag. Es war der Schlüssel, der benötigt wurde, um die Handschellen zu öffnen, die Katrin an Händen und Füßen trug, und an diesen Schlüssel kam sie nicht ran. Katrin schluchzte leise. Ihr Handgelenke taten weh. Sie wusste, dass sie allein nicht in der Lage war, die Handschellen, die sie an die junge Birke fesselten, zu öffnen. Die junge Birke stand inmitten anderer Laubbäume verschiedener Art in einem dichten Wäldchen am Rechhang, einen Kilometer von Unterbernbach und mindestens fünfzig Meter vom nächsten Waldweg entfernt.Das war das Problem! Allein kam Katrin nicht los und so versteckt wie sie war, würde niemand sie finden! Das Mädchen schluchzte laut auf. Dabei hatte alles so schön begonnen!

Tags zuvor war Katrin fröhlich nach Hause gelaufen, froh, der Schule für sechs Wochen entronnen zu sein. Ihr Zeugnis stand voller guter Noten, was ihr den Einstieg in die Ferien weiter versüßte. In der Familie war es Brauch, ein gutes Zeugnis mit großzügigen Geldgeschenken zu entlohnen. Katrins Großeltern, die zu Besuch da waren, hatten ihr vierzig Euro geschenkt und die Eltern hatten nochmals dreißig Euro draufgelegt. Ausgestattet mit diesem Reichtum war Katrin am Morgen ihres ersten Ferientages mit dem Fahrrad nach Naunkirchen gefahren und hatte sich in einem Militaryshop zwei Paar Handschellen gekauft. Zuhause hatte sie rasch das Fahrrad abgestellt, Jeans und T-Shirt gegen ein luftiges knielanges Sommerkleid von blauer Farbe getauscht und war zum Rechhang marschiert, wo sie vor einigen Tagen einen versteckten Platz ausgemacht hatte.Dort wollte sie ihre neuen Handschellen ausprobieren. Zum Rechhang ging es ab dem Ortsende von Unterbernbach einen halben Kilometer durch Wiesen und Obstgrundstücke. Am Hang begann der Wald. Katrin erinnerte sich noch ganz genau, wie sie sich am Waldrand nach allen Seiten umgeschaut hatte, ob ihr niemand heimlich folgte. Dann hatte sie ihre Turnschuhe ausgezogen und  an den untersten Ast eines jungen Ahornbaumes gebunden. Barfuss betrat sie den Wald. Katrin liebte es, barfuss zu gehen. Sie liebte es, die verschiedenen Untergründe in der Natur unter den nackten Sohlen zu spüren. Schon oft hatte sie außer Sichtweite ihres Heimatdorfes ihre Schuhe in einem Versteck untergebracht und war mit bloßen Füßen im Wald und auf den Wiesen umher gelaufen. Mit nackten Füßen zu gehen war ein aufregendes Gefühl. Es war herrlich, kühlen Sand oder trockenes Laub unter den Fußsohlen zu fühlen, oder über weiche Moospolster zu laufen. Auch Feldwege mit gelegentlichen Steinen schreckten Katrin nicht. So war sie frohen Mutes auf nackten Füßen quer durch den Wald zu ihrem auserkorenen Versteck gegangen, und dort nahm das Verhängnis seinen Lauf. Als erstes hatte Katrin sich auf den Boden gesetzt und ein Paar Handschellen um ihre Fußknöchel einschnappen lassen. Die kühle Berührung des blanken Metalls faszinierte sie. Gleich hatte sie den kleinen mitgelieferten Schlüssel ausprobiert. Die Handschellen ließen sich problemlos wieder öffnen. Nun legte Katrin sich das zweite Paar Handschellen an den Handgelenken an. Dazu trug sie die Hände vorm Bauch. Die kleine Kette zwischen den Metallringen war lang genug, dass Katrin an den Schlüssel im Schloss heran kam, um die Handschellen zu öffnen. Anschließend probierte das Mädchen aus, ob es die Handschellen auch aufbekam, wenn ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammen geschlossen waren. Auch dies funktionierte. Befriedigt nahm Katrin die Handschellen von den Händen ab. Die nackten Füße ließ sie gefesselt. Sie stand auf, was mit aneinander geketteten Füßen gar nicht so leicht war und stellte sich mit dem Rücken an die Birke. Dann streckte sie ihre Arme hinter den Stamm und legte sich unter Verrenkungen die Handschellen an. Das Schlüsselchen steckte im Schloss. Katrin lehnte sich an den Baumstamm und schloss die Augen. Gefesselt! Sie war gefesselt! Wunderbar!

Schon seit Monaten spukte der Gedanke in ihrem Kopf herum und Katrin hatte auf ihren Wanderungen immer die Augen offen gehalten, ob sie vielleicht ein passendes Versteck fände, wo sie sich selbst fesseln konnte. So war sie auf den Platz am Rechhang gestoßen. Weil sie pinkeln musste und dabei nicht gesehen werden wollte, war sie tief ins Unterholz des Waldes vorgedrungen und hatte den geheimen Platz entdeckt. Gleich am nächsten Tag war Katrin mit einem Seil zurück gekehrt, das sie im Keller ihres Elternhauses aufgegabelt hatte. Es war ihr gelungen, ihre Fußgelenke so fest zusammen zu binden, dass sie sich nicht befreien konnte, doch zu ihrer größten Enttäuschung gelang es ihr nicht, ihre Handgelenke anständig zu fesseln. Was sie auch anstellte, die Fesselung hielt nie besonders lange. So war Katrin auf die Idee mit den Handschellen gekommen. Sie hatte sie im Schaufenster des Militaryshops  gesehen, als sie mit ihrem Vater in Naunkirchen gewesen war, um einen neuen Läufer für den Hausflur zu kaufen. Fünfundzwanzig Mark kostete ein Paar. Katrin war von Anfang an klar, dass sie zwei Paar Handschellen benötigte. Wenn sie welche an den Handgelenken trug, dann bitteschön auch an den Füßen! Also hatte Katrin begonnen, ihr Taschengeld zu sparen und auf die Zeugnisausgabe zu hoffen. Heimlichs würden diesen Sommer nicht in Urlaub fahren. Auf diese Art hatte Katrin die ganzen Sommerferien für ihre Spiele mit den Handschellen. Kaum im Besitz der neuen Handschellen hatte sie nicht Eiligeres im Sinn gehabt, als sie auszuprobieren und das hatte sie in ernste Schwierigkeiten gebracht. "Hätte ich doch nur den Schlüssel mit einem Schnürchen an die Handschellen gebunden!" dachte Katrin verzweifelt. Ja, hinterher ist man immer schlauer! Aber in ihrer Aufregung hatte das Mädchen nicht daran gedacht, den kleinen Schlüssel zu sichern. Er steckte ja recht fest im Schlüsselloch der Schellen, die sie an den Handgelenken trug. Das Unglück passierte, als ein Sonnenstrahl direkt in Katrins Augen blitzte und sie heftig niesen musste. Der Nieser schüttelte sie kräftig durch und der kleine vernickelte Schlüssel, mit dem die Handschellen geöffnet wurden, flog in hohem Bogen davon. Im ersten Moment war Katrin zwar ein wenig erschrocken aber sie machte sich noch keine Sorgen. Mit trippelnden Schritten drehte sie sich um den Baum herum, um zu sehen, wohin das Schlüsselchen gefallen war. "Au Backe! Ganz schön weit!" Katrin hatte angenommen, dass der Schlüssel genau nach unten neben den Baumstamm gefallen sei. Er lag jedoch weit weg vom Stamm im Sand. "Keine Panik, Katrin!" sagte sie zu sich selbst. "Ich geh jetzt in die Hocke und dann setze ich mich auf den Hintern und angele mit den ausgestreckten Füßen nach dem Schlüssel." Es war nicht leicht, den Entschluss in die Tat umzusetzen. Katrin musste sich ziemlich anstrengen und verrenken. Endlich saß sie auf dem Boden, den Rücken gegen den Stamm der Birke gelehnt. Sie hob die Beine und streckte sie in Richtung Schlüssel. Sie erreichte den Schlüssel nicht. Katrins Herzschlag setzte kurz aus. Nein! Das konnte nicht sein!

Doch es war so! Sie saß am Fuß einer Birke mit nach hinten gefesselten Händen und kam nicht an den einzigen Schlüssel heran, mit dem sie ihre stählernen Fesseln öffnen konnte. "Oh Gott!" Katrin schluckte hart. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, was das bedeutete. Sie konnte nicht von hier weg. Sie war hilflos. "Nein!" wisperte sie entgeistert. "Warum habe ich Dussel denn den Zweitschlüssel nicht mitgenommen?" Der würde jetzt in den Handschellen an ihren Fußgelenken stecken und mit einigen gymnastischen Verrenkungen käme sie daran und könnte sich befreien. Der Zweitschlüssel lag zuhause in ihrem Zimmer. Sie hatte ihn nicht mitgenommen. Das war der Moment, in dem Katrin wusste, dass sie in ernsten Schwierigkeiten war. "Keiner weiß, wo ich hingegangen bin!" dachte sie ängstlich. "Und ich stecke so tief im Wald, dass mich keiner findet. Was soll ich bloß machen? Wie konnte ich mich nur so blöd anstellen!" Panik wühlte in ihren Eingeweiden. Sie sah sich im Geiste am Fuß des Baumes sitzen und jämmerlich verdursten. Wenn niemand sie fand, hatte sie keine Chance. Katrin weinte. Sie weinte ziemlich lange, bis ihr einfiel, dass ihre Eltern natürlich bemerken würden, dass ihre Tochter abends nicht nach Hause kam. Sie würden nach ihr suchen und wenn die Suche erfolglos verlief, die Polizei verständigen. Man würde mit Hunden nach Katrin suchen. Schlimmstenfalls würde sie bis zum nächsten Tag an die Birke gekettet bleiben. Über Nacht rückten garantiert keine Suchkommandos mit Hunden aus. Bei dem Gedanken, die Nacht  hilflos angekettet im Wald verbringen zu müssen, brach Katrin erneut in Tränen aus. Sie dachte an Wildschweine und andere Schrecken der Nacht. Was war, wenn sie austreten musste? Und würde es nicht sehr kalt werden in der Nacht? Sie trug nur ein dünnes Sommerkleid, das nicht einmal ihre Knie bedeckte. Und dann erst das Trara, wenn man sie entdeckte! Katrin konnte sich lebhaft vorstellen, was abgehen würde, wenn man sie entdeckte und heraus fand, dass sie sich selber durch leichtsinnige Spielerei in die schlimme Lage gebracht hatte. Sollte sie sagen, man hätte sie überfallen und gefesselt im Wald zurück gelassen? Das würde nicht hinhauen. Katrin wusste, dass sie eine solche Lüge nicht lange aufrecht erhalten konnte. Und es bestand immer noch die Gefahr, dass die Polizei zu spät mit der Suche anfangen würde oder am falschen Platz suchen würde. Wer dachte schon an den Rechhang? Kannten die Polizisten überhaupt den schmalen Fußpfad, auf dem Kathrin in den Wald gekommen war? War es überhaupt ein Fußpfad? War es nicht vielmehr ein Wildwechsel? Erneut stieg die Vision von übellaunigen Wildschweinen in ihr auf. Die Tiere waren aggressiv und unberechenbar. Katrin musste sich eingestehen, dass sie im schlimmsten Fall ihr Spiel mit den Handschellen nicht überleben würde. Der schmale Pfad, auf dem sie den Wald betreten hatte, lag fünfzig Meter entfernt. Der einzige richtige Waldweg, breit genug für die Unimogs der Forstverwaltung, lag sogar noch viel weiter weg. Katrin war am Waldrand über die Wiese gegangen, bis sie auf den schmalen Pfad stieß. Allerdings, so erinnerte sie sich, hatte es im Gras der Wiese so etwas wie einen Pfad gegeben. Das hatte man gesehen.

Auch ein Wildwechsel? Auf dem die Wildschweine nachts auf die Felder liefen, um nach Kartoffeln zu wühlen? "Oh nein!" Schluchzend zerrte Katrin an den Handschellen. Die Handgelenke taten ihr weh. Sie hatte die Handschellen zu fest geschlossen, bevor sie die Sicherungen einrastete. Man konnte die Schellen zwar immer mehr zudrücken, aber weiter stellen ging nicht. Dazu musste man sie mit dem Schlüssel aufschließen, und der Schlüssel lag fast einen Meter von Katrins Füßen entfernt. Er funkelte im Licht der Sonne, die durch das Laub der Bäume fiel und grüngoldene Kringel auf den Waldboden malte. Der kleine vernickelte Schlüssel schien Katrin zu verhöhnen. Sie fühlte sich wie jemand, der bis zum Hals im Boden der Wüste eingegraben ist, mit einer Schale Wasser vorm Gesicht, gerade so weit weg, dass man sie auf keinen Fall mit dem Mund erreichen konnte. Wasser würde ein Problem werden. Schon jetzt verspürte Katrin Durst und es war heiß. Ihr Durst würde bald schlimmer werden. "Nie wieder mache ich so was!" schwor sie sich. "Ich hätte eine Freundin fragen sollen, ob sie mitmacht." Ihr Herz schlug wild. "Und ich hab mich so auf die Handschellen gefreut!" dachte Katrin traurig. Sie schämte sich, bei dem Gedanken, was die Leute im Dorf über sie reden würden, wenn heraus kam, was sie getan hatte. Plötzlich hielt Katrin inne und lauschte. Sie vermeinte, Stimmen zu hören. Angestrengt lauschte das Mädchen. Hatte sie sich geirrt? Nein! Es waren wirklich Stimmen! Katrin rutschte vor Erleichterung das Herz in die Hose. Keine einsame kalte Nacht allein im Wald! Kein Verdursten! Keine Wildschweine! Sie reckte sich in die Höhe und schrie aus Leibeskräften: "Hilfe! Hilfe! Hört mich jemand?" Sofort bekam sie Antwort. "Hier! Ich bin hier!" brüllte sie. "Mitten im Wald!" Es krachte und knackte im Unterholz. Ängstlich schaute Katrin in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Die Büsche teilten sich und Annika Lauer stand vor ihr. Katrin kannte Annika. Die besuchte die gleiche Schule und ging in eine Parallelklasse. Als Annika die gefesselte Katrin bemerkte, wurden ihre Augen kugelrund.

"Was ist denn hier los?" fragte sie verwundert. Katrin lief dunkelrot an. "Ich...ich...", stotterte sie. "Ich habe mit den Handschellen gespielt und der Schlüssel ist mir runter gefallen. Ich komme nicht mehr dran." Sie schämte sich in Grund und Boden und sie war heilfroh, dass sie nicht ihr Kleid ausgezogen hatte. Ursprünglich hatte sie sich nämlich nackt fesseln wollen. Annika grinste spitzbübisch: "Da bist du ja ein einer ziemlich unangenehmen Lage, meine Liebe. Was wäre, wenn ich dich einfach so hängen lasse?" "Oh bitte nicht, Annika!" bettelte Katrin. "Na schön." Annika bückte sich nach dem Schlüssel und dann schloss sie Katrins Handschellen auf. "Uff! Danke!" seufzte Katrin und rieb sich die schmerzenden Hand- und Fußgelenke. Annika grinste: "Du hättest das Schlüsselchen mit einem Faden an den Handschellen festbinden sollen. Sei froh, dass ich zufällig vorbeikam. Wie kann man nur so doof sein." Sie lachte fröhlich. "Als ich vor zwei Jahren mit meinen Fesselexperimenten begann, war ich schlauer. "Du...?" Katrin schaute verdutzt. Annika zuckte die Schultern: "Glaub man ja nicht, dass du die Einzige auf der Welt bist, die es aufregend findet, gefesselt zu sein!" Sie lächelte Katrin freundlich an: "Wir könnten uns ja zusammen tun und uns gegenseitig fesseln. Dann kann nichts passieren. Was meinst du?" Sie wurde ein wenig rot. Katrin glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Eine gleichgesinnte Freundin! "Nur zu gerne, Annika!" antwortete sie. Katrin freute sich. Das würde sicher ein interessanter Sommer werden.
 

Autor: Bonderix (15.08.2002)

...